„Ich war nicht mehr vorhanden“
Die Holocaust-Überlebende Trude Simonsohn im
Gespräch
Seit dem 16. März 1938, dem Tag nachdem Einmarsch deutscher Truppen in die Tschechoslowakei, sprach niemand ihrer früheren Freunde mehr mit ihr. Niemand schenkte ihr mehr ein Lächeln. Als Jüdin unter der Herrschaft Hitlers wurde sie von einem Tag auf den anderen zur Unperson: „Ich war nichtmehr vorhanden.“ So begann Trude Simonsohn, heute 90 Jahre alt, ihren eindringlichen und anrührenden Vortrag vor 80 Schülerinnen und Schülern der Heinrich-Böll-Schule Rodgau und der Georg-Büchner-Schule Frankfurt, die sich entschieden hatten, an der in Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung durchgeführten Lea-Fortbildung „Nationalsozialismus und Widerstand - Im Gespräch mit den Zeitzeuginnen Trude Simonsohn und Irmgard Heydorn“ teilzunehmen.
Die 95-jährige Irmgard Heydorn, seit 1933 im sozialistischen Widerstandgegen Hitler aktiv, konnte wegen gesundheitlicher Probleme an der Lea-Fortbildung am 30. November 2011 im Frankfurter Gutleutviertel nicht teilnehmen. Umso mehr lauschten die meist 16-jährigen Schülerinnen und Schüler der Lebensgeschichte von Trude Simonsohn: 1942 mit 21 Jahren wegen politischer Arbeit für eine jüdische Jugendorganisation verhaftet, vor ein Standgericht gezerrt, ohne das Recht auf Verteidigung in Einzelhaft gesperrt, nach Theresienstadt und anschließend ins KZ Auschwitz deportiert. „Ich weiß nicht, ob ihr das versteht…“ Immer wieder versuchte Trude Simonsohn, sich zu vergewissern, ob das, was sie zu berichten hatte, für die Schülerinnen und Schüler überhaupt begreiflich ist. Dass ein ganzes Volk sich der Ausrottung der Juden verschrieben habe, das könne sie gar nicht verstehen, bekannte eine Schülerin. Das den verfolgten Juden angetane Leid aber prägte sich allen, die Trude Simonsohn mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörten, sehr wohl ein. Immer wieder hob sie die Momente der Hoffnung, die Gesten und Worte der Ermutigung hervor, die ihr in jener schrecklichen Zeit von gänzlich unbekannten Menschen zuteil wurden und die ihr die zum Überleben notwendige Kraft gaben. Hier zeigte eine Holocaust-Überlebende, wie sie trotz grausamer Umstände ihre Würde zu bewahren vermochte. Vielleicht war es das, was die Jugendlichen in Bann schlug. Auch die von der Moderation angesagte Veranstaltungspause bot Trude Simonsohn nicht die geringste Chance zum Verschnaufen: Eine ganze Traube wissbegieriger Schülerinnen und Schüler scharte sich um die alte, aber irgendwie jung gebliebene Frau, die ihren Judenstern auf den Tisch legte und jede Frage aufgriff.
„Cool“ finde sie Frau Simonsohn, bekannte eine 16-Jährige, weil die uns „respektlosen Teenagern“ ihre Zeit widme. Aber von mangelndem Respekt der Schülerinnen und Schüler konnte wirklich nicht die Rede sein. Warum sie nicht verbittert sei, warum sie die Deutschen nicht hasse, wollten sie wissen. Sie habe „kein Talent zum Hassen“, entgegnete die 90-Jährige lakonisch. „Zivilcourage kommt nicht vom lieben Gott, die muss man sich erarbeiten“, gab Simonsohn den Jugendlichen mit auf den Weg. Nicht erst in einer Diktatur, sondern schon vorher müsse man Zivilcourage zeigen und praktizieren. Dieser Gedanke – so schien es – fiel auf fruchtbaren Boden.
Als Moderatorin Ursula Ernst von der Anne-Frank-Begegnungsstätte die Jugendlichen nach ihrer Meinung und
nach ihrem Umgang mit den aktuell bekannt gewordenen Neonazi-Morden befragte, die der lea-Fortbildung unerwartet eine bittere Aktualität verliehen, entbrannte eine engagierte Debatte unter den Jugendlichen beider Schulen. Fortan musste die Moderatorin nicht mehr die Beiträge von Simonsohn moderieren, sondern sah sich in der Rolle, das Gespräch der Schülerinnen und Schüler untereinander zu leiten. Der Funke war übergesprungen. Anwesende Begleitpersonen, die Referentin und die Moderatorin fanden sich unversehens in der Zuhörer-Rolle wieder, während die Jugendlichen, die meisten mit Migrationshintergrund, ernsthaft und kontrovers den Umgang mit Neonazi-Bestrebungen und den Umgang miteinander erörterten. Wechselseitige Beleidigungen und gar Gewalt waren nicht ihr Ding. Respekt gegenüber Andersdenkenden, Gleichbehandlung und wechselseitige Anerkennung lagen ihnen am Herzen. Trude Simonsohn konnte sich – sichtlich zufrieden – ein wenig zurücklehnen. Spontan erklärte sie ihre Bereitschaft, an einer weiteren Fortbildung zusammen mit lea bildungsgesellschaft teilzunehmen.
Gerhard Walentowitz
Quelle: HLZ Nr. 1-2/2012 (Seite 25)